Der goldene Turm erzählt
Ich bin der goldene Zwiebelturm von Kupferhammer. Jeden Tag schaue
ich über die Häuser von Heddernheim,
über den Bach und den Park. Ich sehe den Wolken zu und hören den kleinen Bach in der Nähe rauschen. In der Sonne glänze ich königlich und bin auch im Regen schön. Unter mir die
bunten Fassaden und Säulen leuchten, egal ob es Sommer oder Winter ist. Ich bin
vergoldet und erhebe das Haus, auf dem ich stehe, in den Stand eines Palastes.
Die darin zu Hause sind, werden zu Königen und Königinnen. Die ganz kleinen
Herrschaften sind mir die liebsten, für sie bin ich erdacht worden, für sie hat
Meister Hundertwasser dieses wunderbare Haus entworfen. Sie sollen sich wohl
fühlen, sollen spielen und lachen, sich
entfalten wie bunte Blüten, jede einzigartig und schön.
Früher stand hier ein ganz anderer Turm, der ragte weit in
den Himmel und pustete auch Schmutz in die Luft. Es war der Turm der
Müllverbrennungsanlage. Zum Glück wurde sie irgendwann abgerissen und man
beschloss, hier schönere Häuser zu bauen. Damals gab es auch viel Ärger.
Meister Hundertwasser hatte das Haus der
Kinder für diesen Ort erdacht und er war sehr genau, wenn es um seine Pläne
ging. Da konnte man nicht einfach billige Betonbausteine verbauen, wo er eine
geschwungene Treppe haben wollte, damit die Kinder die Melodie der Füße
erspüren. Und dort, wo eine grüne Landschaft mit Bäumen und Sträuchern und
Spontanvegetation gedacht war, war einfach nur ein bisschen Rasen gesät worden.
Bloß gut, dass ich den Meister nicht erlebt habe in seinem Zorn. Kein Maler möchte,
dass ein Fremder sein Bild verändert. Und er wollte nicht, dass die Bauleute
seinen Entwurf verändern, denn der war auch ein Kunstwerk. Meister
Hundertwasser wollte, dass seine Idee als Ganzes gebaut wird, nicht nur ein
Stück davon, wie es den Frankfurtern gerade passte.
Ich bin froh, dass der Meister so hartnäckig war, denn sonst
würde es mich gar nicht geben. Ein Turm aus Gold auf einer Kindertagesstätte –
das war zu teuer. Aber Meister Hundertwasser wollte unbedingt, dass die Kinder
ihren goldenen Turm bekommen, damit man von weit her sehen kann, hier wohnt ein
kleines Königsvolk. Weil das Geld zu knapp war, hat der Meister einige seiner
Bilder hergeschenkt und sie verkaufen lassen. Dann reichte das Geld, um mich und
meinen Bruder zu bauen.
Nun schauen wir ins Land, in die Siedlung, die es schon sehr
lange gibt. Heddernheim war vor über hundert Jahren ein eigener Ort. Er wuchs
immer mehr zur Stadt Frankfurt hin und schließlich ist er ein Teil von ihr
geworden. Die U-Bahn fährt hierher und das Lustige ist, dass sie in Heddernheim
über der Erde fährt.
In meiner Nähe gibt es viele neue Reihenhäuser, an einer
Straße mit rotem Schrägdach, an der anderen ohne Dach in weiß. Sie sehen sich
alle sehr ähnlich. Meister Hundertwasser hat erzählt, dass es viel besser ist,
wenn jedes Haus oder jedes Fenster anders aussieht. Die Menschen sollen es
immer wiedererkennen und ihr Zuhause selber gestalten. Ich glaube, sie trauen
sich das nicht so richtig. Dafür pflanzen sie Blumen und Bäume, bemalen ihren
Gartenzaun und stellen bunte Sonnensegel auf. Und die vielen kleinen Schalen
mit Pflanzen darin sind schön anzusehen.
Und die dicke Katze an der Ecke, die
ist meine Freundin. Sie begrüßt mich jeden Morgen und erzählt mir, wie das
Wetter wird.
Aber die Kinder sind das Beste in der Siedlung. Es gibt
viele Kinder hier. Deshalb bin ich mit meinem bunten Haus auch nicht alleine.
Gleich gegenüber ist noch eine Kinderreinrichtung, aber die sieht ziemlich
langweilig aus. Und ein paar Straßen
weiter, gleich hinter dem Bahndamm, ist noch eine. Es gibt mehr als zehn
Einrichtungen für Kinder hier im Stadtteil, und da habe ich die Schulen noch
gar nicht mitgerechnet.
Ich liebe es, wenn die Kinder am Morgen zu mir kommen. Die
Vorschulkinder fahren schon alleine mit dem Rad oder dem Roller zu mir und tragen dabei bunte Helme, die sehen
ganz lustig aus von hier oben. Die ganz kleinen Kinder werden von den Eltern
ins Haus gebracht, da gibt es manchmal Tränen beim Abschied. Aber mein Haus ist
so schön und so spannend, dass die Kleinen ihren Kummer ganz schnell vergessen.
Wenn sie am Vormittag im großen Sandkasten buddeln und Burgen bauen, schaue ich
gern zu. Vor allem wenn dann die Sonne schient und mir den Rücken wärmt. Die
Erzieherinnen sagen manchmal, dass sie gern mehr Platz hätten zum Spielen
draußen. Schließlich gehen Einhundert Kinder jeden Tag in mein Haus.
Dass das Haus
und wir beiden Türme eigentlich ein Kunstwerk sind, finden die Erzieherinnen manchmal
nicht so einfach. Es gibt nicht eine gerade Wand, wie soll man da einen
Schreibtisch hinstellen oder eine Pinnwand aufhängen? Da müssen die Frauen ganz
schön erfinderisch sein.
Meister Hundertwasser hat sich bei den einhundertzwanzig
Fenstern auch gedacht, dass die Kinder durch die Fenster gehen können. Aber sie
sollen auch Regeln lernen, sagen die Erzieherinnen. Und wenn die Schulkinder
Hausaufgaben machen, dürfen die anderen nicht durchs Fenster steigen. Ist ja
klar. Nun ja, Meister Hundertwasser hatte viele Ideen, die manchmal wunderlich
wirken. Vielleicht war er mehr ein Künstler als ein Kinderkenner.
Überhaupt finde ich das Haus, auf dem ich stehe, richtig
schön. Und auch mein Bruder, der zweite Turm, ist schön. Er ist auch
vergoldet, aber das Wetter hat schon ein bisschen von seinem Gold abgefressen
und dafür schämt er sich. Deshalb ist er meistens ganz still und lässt lieber
mich erzählen. Dabei hat Meister Hundertwasser sogar gesagt, Häuser sollen alt
werden und man darf ihnen das ansehen. Er fand sogar, dass Häuser verschimmeln
sollen, damit sie nicht mehr so langweilig sind.
Langweilig ist mein Haus gar nicht. Es hat viele lustige
bunte Keramikschlieren, die aussehen wie Regenwasser. Es hat bunte Säulen und
runde Wände und der Fußboden ist so schön uneben, dass die Kinder immer neue
Arten zu laufen erfinden können. Verschimmeln soll mein Haus aber nicht, dann
dürften die Kinder nicht mehr herkommen. Und für die sind wir sehr wichtig.
Mein Haus und ich, wir sind nämlich nicht einfach nur eine Kita, sondern man
nennt uns Kinderzentrum. Bei uns passieren ganz viele schöne Dinge, die für die
Kinder und die Eltern gut sind. Demnächst machen die Erzieherinnen auch wieder
einen Flohmarkt. Und sie helfen Eltern, damit sie mit ihren Kindern gut leben
können. Früher kamen ganz oft Besucher, die uns ansehen wollten, weil wir doch ein so
besonderes Haus sind. Das hat die Kinder oft gestört. Nun gibt es zwei Mal im
Jahr einen Besuchertag, da werden alle Türen aufgemacht und alle können schauen,
wie schön es im Kinderzentrum ist. An solchen Tagen recke ich mich besonders
und versuche, schön zu glänzen.
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