Alle wollen Letzte sein

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In Darmstadt fahre ich mit der Straßenbahn bis in die Nähe der Waldspirale. Eine lauschige Wohngegend, Bäume säumen die Straße. Leute mit Fahrrädern sind unterwegs, Kinder kommen aus der Schule. Die goldene Kuppel sehe ich zuerst, dann den dicken Turm, der die Waldspirale zu stützen schein, von dem die Häuserzeilen in beiden Richtungen abfließen wie Wasser, das sich vom Berg ergießt. 

Das Haus ist in unterschiedlichen Farbschichten gestaltet, unterbrochen von den bei Hundertwasser typischen fließenden Keramikbändern. Die Farbschichten sind hellgelb bis dunkelbraun, sie symbolisieren die unterschiedlichen Erdschichten. 







Wieder begegnen mir die Säulen, in vielen Farben und Formen. Ich frage mich, ob es auch Säulen gibt, die sich absolut gleich sind, irgendwo an einem der Hundertwasserhäuser, und ganz versehentlich. Wahrscheinlich nicht, denn es sind immer andere Menschen an ihrem Bau und an der Gestaltung beteiligt sind. Genau das meinte Hundertwasser mit seiner Idee von der Individualisierung: An jedem Bauwerk sind es Säulen, sie sind immer als solche zu erkennen. Und doch ist jede auf ihre Weise einzigartig. So stehen sie auch als Symbol für den einzelnen Menschen.


Durch das niedrige Tor gehe ich in die geschützte Welt des Hofes hinein. Das Haus ist belebt, auf den Balkonen stehen Fahrräder, wachsen Pflanzen, hängen Wäsche und Wimpelketten. Im Sandkasten auf dem Hof ist das Spielzeig liegen geblieben. Immer hat Hundertwasser bei der Gestaltung von Häusern darauf Wert gelegt, dass die Bewohner geschützte Bereiche haben, solche, die Rückzugsorte sein können, von den Blicken Außenstehender unberührt. Über den Hof führt eine gemauerte Brücke, auch sie lässt nur erahnen, wer sie nutzt. Sie verbindet die Hofbereiche miteinander, damit die Mieter sich gegenseitig besuchen und doch in der geschützten Atmosphäre bleiben können.









Der geräumige Hof kann von Passanten durchquert werden und bietet schöne Ausblicke auf das Haus, das ihn schlängelnd umgibt. Es ist nicht möglich, den ganzen Bau zu überblicken, man kann nur kleine Bereiche, Teile der Fassade entdecken und dabei die vielen kleinen Gestaltungselemente bewundern. Steht man direkt davor, wirkt das Haus riesig und mächtig. Erst aus der Entfernung wird es farbenprächtig und lebendig. Die typischen begrünte Dächer gleichen einem kleinen Wald und die Baummieter sind groß geworden.


Ich umrunde das Haus, sehe mir die Mieter, das sind einige  Büros und Praxen,  und die Nachbarschaft an. Gleich nebenan gibt es einen Aldi und viele kleine Kindereinrichtungen in den unteren Etagen der gläsernen Bürokomplexe.
Ich suche in der Waldspirale nach den bunten Säulen wie nach vertrauten Personen und finde reichlich von ihnen. An Hauseingängen, auf Balkonen, als Stützen der Bedachung im Toreingang. Auch im jetzt leeren Cafe stehen zwei von ihnen.  Wie schade, dass die Idee des Cafes keinen Bestand hatte. Auch in Plochingen hat das zur Eröffnung fertig gestellte Cafe inzwischen geschlossen.

Gegenüber der Waldspirale gibt es ein Parkhaus. Wahrscheinlich ist es das von Fußgängern am häufigsten aufgesuchte Parkhaus der Stadt. Man kann nämlich mit dem Fahrstuhl bis in der 6. Stcok fahren und hat dann einen wunderbaren Ausblick auf die Waldspirale. Es ist die einzige Möglichkeit, das wunderbare und riesige Bauwerk als Ganzes zu sehen.








Als ich wieder unten bin und noch einmal durch den Innenhof  wandle, begegnet mir eine Reisegruppe mit einer Stadtführerin. Sie hat schon einiges über den Hundertwasserbau erzählt. Auch war die Rede davon, dass es für die Wohnungen eine Warteliste von Interessenten gibt, die gern mieten würden. Sie erläutert sehr liebevoll die Pflasterung und die Farbgebung des Hauses. An einer Stelle weist sie auf einen Elefanten im geschwungenen, mit vielen Arten von Steinen gepflasterten Gehweg hin. Er ist das Symbol für eine Firma, die in der Nähe ansässig ist und die Farben für das Haus angefertigt hat. Jede einzelne Farbprobe, so erzählt sie, musste nach Neuseeland geschickt und vom Meister bestätigt werden.  Das dauerte manchmal sehr lange. Noch eine Woche vor seinem Tod war die letzte Farbprobe angekommen. Und sie meint, die Waldspirale wäre damit das letzte Bauprojekt von Hundertwasser gewesen.




Ich mische mich nicht ein, denn ich bin nur ein heimlicher Zaungast. Aber ich bin hellhörig geworden. Der Uelzener Bahnhof ist nach Aussage des Vereins vor Ort das letzte Projekt gewesen, hat Hundertwasser auf seiner letzten Reise nach Europa doch das Logo für den Bahnhof entworfen. Der Kuchlbauer-Turm ist das letzte Projekt gewesen, hatte er doch den Turm entworfen, kurz  bevor er starb und die Fertigstellung lag in den Händen seines Vertrauten Peter Pelikan. Und nun ist die Waldspirale auch das letzte Projekt.

Warum ist es den Verantwortlichen vor Ort so wichtig, dass ausgerechnet ihr Bauwerk das letzte des Meisters war?  Sie haben doch ein ganz besonderes Bauwerk eines ganz besonderen Künstlers in ihrem Ort. Ist das nicht genug? 


Der Tod des Friedensreich Hundertwasser kam so plötzlich, so mitten in einem vielseitigen Schaffensprozess, dass er viele ratlos hinterlassen hat. Mindestens drei Bauprojekte (Uelzen, Abensberg und  Darmstadt) waren gerade im Entstehen, als das Herz des Künstlers an Bord der Queen Elisabeth II. am 19. Februar 2000 aufhörte zu schlagen. Da war er auf dem Weg nach Europa, um unter anderem die Baustellen zu besuchen.  Die Zusagen hatte er widerwillig und nach hartnäckigem Drängen der Verantwortlichen gegeben und doch Freude an der Gestaltung der Bauwerke gefunden. Und das alles in einer Zeit, als er sich erklärtermaßen eigentlich wieder stärker der Malerei zuwenden wollte. Das letzte Bauprojekt zu sein, strahlt offenbar auf besondere Art und Weise, lässt den Künstler über seinen Tod hinaus mit dem Gebäude in eigenwilliger Verbindung stehen. Vielleicht ist es das, weshalb alle die Letzten sein wollen.  Genau erfahren werde ich es wohl nicht.



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