Als das Ronald Mc Donald-Haus in Essen in der Planung war,
gab es auch kritische Stimmen. Der Gruga-Park, in dem es entstehen sollte, ist
den Essenern wichtig und schutzwürdig, einen Teil davon herzugeben, fast ein
Sakrileg. Doch die Idee konnte sich durchsetzen: Eltern von schwer kranken Kindern
in einer geschützten Umgebung ein Zuhause auf Zeit geben, damit sie Kraft
haben, für ihre Kinder da zu sein und die Familie an der Krise nicht zerbricht.
Ein Ort wie der Park, einerseits unmittelbar angrenzend an das spezialisierte
Klinikum Essen, andererseits eine Oase der Ruhe und Erholung, schien für das
Anliegen wie geschaffen. Hundertwasser sagte sofort zu, als die Projektidee an
ihn herangetragen wurde.
Er besah sich selbst das Grundstück vor Baubeginn und
hielt die Lage in der Senke für sehr geeignet. Hier könnte ein Rückzugsort
entstehen, ein Haus, das den, der es betritt, umarmt und ihm Geborgenheit gibt.
So ist der Entwurf entstanden: Der Turm in der Mitte, die goldene Kuppel der Kopf,
die Flügel des Hauses wie Arme, die umfangen. In der Mitte ein Ruheort mit
Springbrunnen, Sitzgelegenheiten, Spielplatz.
Die Fertigstellung des Hauses hat Hundertwasser nicht mehr erlebt. Auch dies
ist eines seiner vielen letzten Projekte gewesen, die von seinen vertrauten
Architekten zu Ende geführt worden sind. H. Springmann hat die Fertigstellung
des Hundertwasserhauses „Unterm Sternenzelt“ in Essen begleitet und hält noch
heute Kontakt mit den Mitarbeitern vor Ort.
Das Haus, das von der Ronald McDonald-Kinderhilfe-Stiftung
betrieben wird, bietet in 17 Appartements mit jeweils 4 Plätzen den Familien
schwerkranker Kinder ein Zuhause auf Zeit. In der Regel ist es ausgelastet, zeitweise
gibt es sogar Wartelisten. Die anteiligen Kosten von 22,50 Euro pro Tag
übernehmen in den meisten Fällen die
Krankenkassen. Damit ist etwa ein Viertel der anfallenden Kosten gedeckt. Der
Rest wird durch Spenden finanziert. Jährlich werden etwa 240 000 Euro benötigt,
um das Haus kostendeckend zu führen. Gespendet werden auf unterschiedliche
Weise: durch Geldspenden, Sachspenden bzw. Dienstleistungen, durch
Patenschaften oder mit kreativen Ideen, die dem Haus helfen. Es gibt regelmäßige
Spender, ohne die der betreib des Hauses nicht möglich wäre. Die Leiterin des
Hauses Sabine Holtkamp bedankt sich stets persönlich bei jedem Spender, denn
für sie ist es nicht ausschlaggebend, wie hoch der Betrag ist, sondern dass er
von Herzen kommt. Um so wenig wie
möglich Spendengelder für Bürokratie und Personal auszugeben, gilt das
Drei-Köpfe-Prinzip: Es gibt drei hauptamtliche Mitarbeiterinnen, die sich um
organisatorische, finanzielle und außenwirksame Angelegenheiten kümmern. Alle anderen
Arbeiten erledigen die 75 ehrenamtlich Beschäftigten. Ein zweites Prinzip
besagt, dass jeder der drei grundsätzlich alles können muss, so dass bei
Krankheit oder Urlaub die Unterstützung für die Familien nicht gefährdet ist.
Meist werden die Kinder stationär, in seltenen Fällen auch
ambulant, in der Uniklinik Essen behandelt. Die Klinik Essen ist Zentrum für
Transplantationschirurgie mit Schwerpunkt Neonatologie sowie für onkologische
Erkrankungen. Sie verfügt über eines vor deutschlandweit vier Protonenzentren zur
modernen Krebsbehandlung und ist spezialisiert auf die Behandlung von
kindlichen Hirntumoren. Frühgeburten, seltene genetische Erkrankungen oder Eingriffe
nach schweren Unfällen gehören ebenso zum Spektrum. Eltern können auf eine
Intensivstation nicht mit aufgenommen werden. Doch die kranken Kinder brauchen
ihre Lieben in dieser Zeit ganz besonders. Ein Zuhause im „Haus unterm
Sternenzelt“ ist für die Familien eine wichtige Unterstützung. Während ihres
Aufenthalts sind die sie Selbstversorger. Auch die Betreuung der
Geschwisterkinder liegt in den eigenen Händen. Es ist wichtig, dass das Prinzip
der Selbstorganisation einer Familie erhalten bleibt. Häufig sind auch
Alleinerziehende zu Gast im Hundertwasserhaus, die nicht über das herkömmliche Unterstützersystem
einer Großfamilie verfügen.
„Unsere Arbeit besteht aus vielen kleinen Puzzleteilen.“ erzählt
Sabine Holtkamp. Familien, die hier für eine bestimmte Zeit leben, sind in
einer extremen Situation. Sie kämpfen um das Leben und die Gesundheit ihres
Kindes. Die Mitarbeiter im Hundertwasserhaus sorgen dafür, dass die Eltern zur
Ruhe kommen, sich sicher und geborgen fühlen, dass Mutter und Vater wieder
Kraft schöpfen, um für ihre Kinder da sein zu können. Dazu gehört, Zeit zu
haben für die kleinen und großen Sorgen von Eltern und Geschwistern, für die es
punktuelle Angebote gibt. Es gehört ebenso dazu, das Haus und die Umgebung sauber
zu halten, die grünen Dächer und die Pflanzen zu pflegen, Blumen auf den Tisch
zu stellen. Und auch, den Alltag der Familien mit so wenig wie möglich Haushaltsroutinen
zu belasten. Deshalb stehen beispielsweise mehrere Waschmaschinen im Haus. Denn
die Zeit, die man im Waschsalon verbringen müsste, ist zu kostbar. Im
Hundertwasserhaus ist Nähe möglich, erleben Familien Verständnis für ihre
Situation, lernen sich Eltern und Kinder betroffener Familien kennen. Die
Familien befinden sich in so schwierigen und kraftraubenden Situationen, dass
die Unterstützung für sie in jeglicher Situation absolute Priorität hat,
notfalls müssen andere Arbeiten später erledigt werden. Es gilt für alle, die
hier arbeiten, ein Prinzip: Die Familien haben immer Vorrang. Diesen Grundsatz
zu verinnerlichen und danach zu handeln, ist Aufgabe jedes Mitarbeiters. Der
Kontakt zu den Menschen ist das wichtigste.
Als eine große Selbsthilfegruppe bezeichnet Sabine Holtkamp
das Hundertwasserhaus. Es ist Absicht, dass es eine Gemeinschaftsküche gibt.
Sie wird zum Ort der Begegnung. Manchmal kochen Familien miteinander oder
füreinander, knüpfen Kontakte, kommen ins Gespräch. Ein für alle Bewohner und
Mitarbeiter des Hauses zubereitetes Essen kann auch ein Dankeschön sein. Hier sind Freundschaften über Ländergrenzen
hinweg entstanden, die auch später noch Bestand haben. Kinder und Familien aus
unterschiedlichen Ländern werden im Hundertwasserhaus betreut. Das Haus ist häufig sehr multikulturell
belegt. Und es gab noch niemals in seiner Geschichte des multinationale
Probleme. Denn in dieser Situation verschieben sich alle Prioritäten. Es ist
nicht mehr wichtig, welche Sprache jemand spricht oder welche Hautfarbe sein
Kind hat.
Überall im Haus gibt es kleine geschützte Sitzecken. Die
Einrichtung ist auf Offenheit und Kommunikation ausgerichtet, bietet aber auch
ausreichend Rückzugsorte. Jeder kann selbst entscheiden, ob er einen Ruhepunkt
braucht oder ein Gesprächsangebot annimmt. „Obwohl wir den Familien die
Philosophie Hundertwassers nicht erklären, denn sie haben in der Situation
andere Sorgen, erleben wir immer wieder, dass sie unterbewusst wahrgenommen
wird.“ Erzählt Sabine Holtkamp. Die Menschen fühlen sich hier geborgen, können
wieder zu sich selbst finden, ihre Individualität wahrnehmen, nicht mehr nur
funktionieren. Es ist ein Ort, um der Seele Platz zu geben, die Natur ringsumher
und sich selbst zu spüren.
Ein Gang durch das Haus ist wie ein Spaziergang durch den
Wald. Dunkle Flächen ähneln Pfützen, der Boden ist mit Keramik-Bruch einem
Waldboden ähnlich gestaltet, an den Rändern zur Wand wölbt er sich nach oben,
symbolisieren bunte Flecken die typischen Laubhaufen. In den oberen Etagen geht man unter einem blauen Himmel entlang. Bunte
Säulen erinnern an Bäume. Hier und da öffnen sich Lichtungen, im Erdgeschoss
führen sie zum Kinderspielplatz oder zur Küche, es gibt Sitzecken und
Ruheflecken. Die Handwerker haben im Haus nach Hundertwassers Wunsch viel Gestaltungsspielraum
gehabt und ihn kreativ genutzt. Auch hier wurden in das eiserne Treppengeländer typische Werkzeuge eingearbeitet.
Baummieter
gibt es hier und Pflanzen wachsen aus Kübeln oder in Töpfen wie auf dem Pflanzenvorhang,
der ein Fenster vor Einblicken von draußen schützen kann.
Dezente Möbel stehen
im Fernsehzimmer, in der Bibliothek und in den Appartements. Immer wieder
offene Türen, tanzende Fenster. Es ist möglich, durch das ganze Haus zu gehen,
ohne umzukehren. Kein Gedanke an das sterile Viereck eines Krankenhausflures,
das wartende Eltern Stunde um Stunde durchmessen, wenn sie auf gute Nachrichten
vom kranken Kind hoffen.
Die Wendeltreppe im Turm führt bis in die goldene Spitze. Wer dort ankommt, kann
sich herausnehmen aus dem Alltag, ist für einen Moment frei und erhoben. Rote Liegesessel
laden zum Ausruhen ein. Vom Dachgarten aus kann man das Haus und einen Teil des
Gruga-Parks überblicken.
Hier hat der Gärtner vorsichtig gemäht. Die Idee der
Spontanvegetation nehmen die Mitarbeiter des Hauses sehr ernst. Erst wenn die
Pflanzen sich wieder ausgesät haben, werden sie im Herbst geschnitten, um den
Weg frei zu halten. Eine Vielfalt von unterschiedlichen Pflanzen wächst hier
neben Sträuchern und Bäumen.
Dass das gesamte Haus von der Arbeit der ehrenamtlichen Helfer lebt, ist beachtlich. Sie arbeiten durchschnittlich 3 Stunden an einem einem Tag wöchentlich in den verschiedensten Bereiche, je nach ihren Fähigkeiten und Wünschen. Oftmals ist es gar nicht der direkte Kontakt mit den Familien, sondern das stille und zuverlässige Wirken im Hintergrund, das ihre Arbeit ausmacht. Immer Dienstags bereiten sie ein besonderes Frühstück für die Familien vor. Donnerstags gibt es zur festen zeit ein abendliches 3-Gänge-Menü für die Familien. Sie sollen wieder lernen, gut für sich selbst zu sorgen, das Leben auch in schwierigen Zeiten zu genießen.
Auf dem Weg durch das Haus treffen wir Sabine Klein, sie ist eine der vielen ehrenamtlichen Helferinnen im Hundertwasserhaus. Vor allem kümmert sie sich um alles, was auf den Etagen grünt und blüht. Sie erzählt, dass früher jeder irgendwie die Pflanzen gegossen hat und das ist ihnen oft nicht gut bekommen. Nun ist sie die Frau mit dem grünen Daumen. Dass ihr Engagement der Hausflora gut tut, ist offensichtlich. Aber Sabine Klein ist auch Hobbykünstlerin.
Sie hat die Hundertwasserfigur aus Pappmache gestaltet,
die im Eingangsbereich sitzt. Mit der großen Ballonmütze, der Staffelei und den
bunten Socken begrüßt sie jeden Gast und erinnert an das Vermächtnis des
Künstlers. Sabine Klein erzählt voller Hingabe von ihrer Arbeit im
Hundertwasserhaus. Manchmal bekommt Meister Hundertwasser eine andere Mütze
aufgesetzt, die dem Anlass entspricht. Und heute setzt Sabine Klein ihm den
bunten Hut auf, der mich auf meiner Reise begleitet hat. Lachend stellen wir
beide fest, dass er dem Meister steht.